Lifestyle | 28.04.2021
Zwischen Vielfalt und Normierung
Darstellungen vom Frauenkörper sind seit jeher in allen Kulturen Ausdruck jeweiliger gesellschaftlicher Trends. Die ideale Frau des 21. Jahrhunderts unserer Gesellschaft sollte jugendlich, groß, trainiert, schlank, faltenfrei sein, einen perfekten Busen haben und auch in ihrer intimsten Zone dem scheinbaren Idealbild der „Muschel“ entsprechen. Aber: Welcher Frauenkörper entspricht real dem Ideal?
Intimoperationen zählen heutzutage zum Leistungsumfang vieler Plastischer ChirurgInnen, GynäkologInnen und chirurgisch tätigen MedizinerInnen. Im Internet findet man reichlich Angebote zur „vaginalen Verjüngung“: Es gibt Schamlippenkorrekturen (weil die inneren „unschön“ unter den äußeren hervorstünden) ebenso wie Vaginalstraffungen (um wieder so eng zu werden wie eine junge Frau und der Sex deshalb besser werde), Korrekturen der Klitoris (weil sie falsch liege und beim Geschlechtsverkehr nicht – ohne Hände – mitstimuliert werden könne) und Venushügelaufpolsterungen. Besonders Verkleinerungen der inneren Lippen werden nachgefragt, weil sie beim Reiten, in engen Hosen oder beim Radfahren stören (wer käme bei Männern auf die Idee, die Hoden zu operieren?), sich aufreiben und entzünden oder beim Sex in die Vagina gezogen und so Schmerzen verursachen können.
Mögliche Konsequenzen für Sexualität. Die Durchtrennung von Nerven und Blutgefäßen, die während eines chirurgischen Eingriffs faktisch nicht zu vermeiden ist, kann zu funktionellen Ausfällen führen. So können Schamlippenverkleinerungen und eine Manipulation an der Klitoris zu einer Minderung der Erregungsempfindung, Narbenschmerz und Narbenbildung führen. Eine verminderte oder massiv verstärkte Sensibilität der Klitoris nach der Verlegung oder der Entfernung der Klitorisvorhaut kann das Lustempfinden beim Geschlechtsverkehr erheblich beeinträchtigen. Die Verengung der Vagina könnte möglicherweise zwar zu einer Steigerung des Lustempfindens führen, sie birgt aber das Risiko zur Entwicklung einer trockenen Scheide, von Infektionen, Orgasmusstörungen und schmerzhaftem Geschlechtsverkehr.
Tabu Vulva. Warum Frauen Intimoperationen überhaupt in Betracht ziehen, scheint auch an einer immer noch vorherrschenden Tabuisierung des weiblichen Genitals zu liegen. Frauen haben große Bedenken, was das Aussehen und die Größe ihrer Vulva betrifft, wissen selbst aber über diesen Körperteil aufgrund der gesellschaftlichen Tabus am wenigsten Bescheid! Lena, 25 Jahre: „Als Kind habe ich nie über meine Genitalien nachgedacht. Die Idee, dass das, was ich sah, nicht normal sein könnte, hatte ich erst mit 13 Jahren, als meine Freundin mich fragte, ob bei mir aus den baumstigen Schamlippen auch was Rosiges raushängen würde? Ja, tat es. Es war faltig und gar nicht rosa. War da etwas, was hier nicht sein sollte? War ich etwa krank? Erst der Besuch bei der Frauenärztin zwei Jahre später konnte mich beruhigen. Sie gab mir einen Spiegel in die Hand und erklärte, dass die Vulva bei jeder Frau anders aussehe, sich im Laufe des Lebens auch verändert und die inneren Lippen die Vagina vor Infektionen gut schützen. Auch für die sexuelle Erregung seien sie wichtig, weil innere und äußere Lippen dabei bis zu dreimal so dick werden können und so den Vaginaleingang öffnen. Ich wurde neugierig und begann, mich mit meiner Vulva intensiver zu beschäftigen. Das hat mir geholfen, als ich vor einem Jahr ein Kind geboren habe und sich meine Vulva und das Spüren in der Vagina total verändert haben. Mit Beckenbodentraining hat sich alles gebessert. Ich mag meinen Körper, trotzdem bin ich mit Partnern auch unsicher, ob ich gefalle, obwohl ich nie abwertende Bemerkungen bekommen habe.“
Normierte Vorbilder versus Vielfalt. Mit der Entfernung der Schamhaare ist heute sichtbar, was früher verborgen blieb. Eine wesentliche Rolle zur Verunsicherung spielen normierte Bilder, die nicht nur in Pornos oder einschlägigen „Männermagazinen“ zu sehen sind, sondern auch in Illustrationen von Artikeln zu Sexualität und Schönheitsoperationen, in Aufklärungsmedien, Biologiebüchern (!) und selbst in medizinischen Lehrbüchern. Doch die Vielfalt ist die Norm: Das zeigt die weltweit bisher größte Vulva-Studie aus dem Jahr 2018. Ein Team von fünf Ärztinnen und Ärzten hat im Kantonsspital Luzern die Vulva von 657 Frauen im Alter von 15 bis 84 Jahren detailliert vermessen. Die Variation ist erheblich und die Asymmetrie völlig normal. Das Interesse an den äußeren weiblichen Genitalien wächst nicht nur in Medizin und Wissenschaft. Frauen und Mädchen setzen sich verstärkt mit ihren Vulven auseinander. Dabei brauchen sie aber vielfältige Vorbilder (siehe Empfehlungen in der Infobox)! Das kann zu mehr Selbstbewusstsein und einer befriedigenderen Sexualität führen.
Beratung und Bewusstsein. Falls Sie eine Intim-OP erwägen, lassen Sie sich von mehreren Gynäkologen oder Plastischen Chirurgen beraten, ziehen Sie weibliche Vertrauenspersonen zu Rate und lesen Sie bitte die Leitlinien für Genitalchirurgie (Infobox). Setzen Sie sich mit Ihrem Körperbild auseinander, weil neben den OP-Risiken auch die Gefahr besteht, dass der als unschön empfundene Körperteil gar nicht das Problem ist. Unterstützung und Beratung finden Sie auch gern in meiner Praxis.
www.haberfellner-sexualberatung.at
MEHR INFOS:
Weibliche Genitalchirurgie: Medizinische Standards und gesetzliche Regelungen.
In Österreich sind vor allem drei Vorgaben von Bedeutung:
° Bundesgesetz über die Durchführung von ästhetischen Behandlungen und Operationen
° Leitlinien weiblicher Genitalchirurgie – Konsenspapier (leitlinien-genitalchirurgie.pdf)
° der sog. FGM-Paragraf § 90, Abs. 3 des Strafgesetzbuches
Meine Empfehlungen zur VielfaltBücher:
Dr. Laura Méritt (Hg.) „Frauenkörper – neu gesehen“
Grit Scholz: „Das Tor ins Leben“
Gloria Dimmel: Kunstprojekt „A vulva is a vulva” www.gloriadimmel.com
Stefanie Grübl: „Vielma – vielfältige Materialien“, www.vielma.at
Wissenschafts-Doku 3sat: „Vulva und Vagina – neue Einblicke in die weibliche Lust“